Titel: Aufklärung
Autor: Günter Kunert (1929–2019) – Schriftsteller, Lyriker; kein Historiker
Textart: populärwissenschaftliche Sekundärliteratur
Problemfrage: Die Aufklärung. Abgeschlossene Epoche oder unvollendetes Projekt?
These des Autors: Aufklärung scheiterte unwiderrufbar an ihrem eigenen Erfolg
Argumente:
- ist ihr eigenes Opfer
- zerstörte Glauben, Aberglauben, Irrtümer, Träume, … ⇒ Vakuum an Selbstverwirklichung, welche vorher durch Fantasie erfüllt wurde; die Aufklärung selbst kann dieses Vakuum nicht füllen
- Verlangen nach Unbekanntem und Unerklärlichem ruft “innere Trostlosigkeit” hervor
- Notwendigkeit nach irrationalem erschafft neue Gedanken, welche selbst eine zweite Aufklärung nicht beseitigen könnte
- Rationalität ersetzt Emotionalität
- „Sinken der Tötungshemmung“
- „Schwund der Gewissen“
⇒ Rationalität ist unmenschlich
⇒ Theorien, Gedanken, Irrtümer, Illusionen und Aberglauben müssen zu Fakt werden, denn Irrationalität ist inkompatibel mit der Aufklärung (vgl. Querdenker, Verschwörungstheoretiker, Coronaleugner etc. etc.)
historische Sachverhalte:
- Die Aufklärung …
- verringerte die Macht und den Einfluss einer korrupten Kirche
- förderte Revolutionen in Herrschaftsystemen
- ermöglichte technischen Fortschritt
Voreingenommenheit des Autors:
- kein Historiker
- Text ist sehr dramatisch und enthält viele Übertreibungen, Metapher und emotive Sprache
Zitat: “Seit Beginn der Menschheitsgeschichte und der Selbsterhaltung des Subjekts gegenüber einer bedrohlichen Natur setzte sich eine instrumentelle rationale Vernunft der Aufklärung durch, die einen Selbstzerstörungsprozess in Gang brachte, der Systeme wie den Nationalsozialismus und dessen technisierten Massenmord ermöglichte.”
Voreingenommenheit des Autors:
- kein Historiker sondern Philosoph
- Zeitzeuge ⇒ Perspektive voreingenommen stark gegen Nazi-Deutschland; Meinung tendenziell weniger sachlich und mehr emotional
heutige Perspektive:
- Nationalsozialismus hervorgerufen durch viele Faktoren, u.A. Ausnutzung des politischen Zustands in Deutschland ⇒ nicht rational, sondern emotional entstanden bzw. damalige “rationale” Meinung verzerrt durch historischen Kontext
- technisierten Massenmord: möglich durch wissenschaftlichen Fortschritt, aber Fortschritt allein ist nicht schlecht
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Der Ausschnitt aus dem Text „Aufklärung “ von deutschem Lyriker und Schriftsteller Günter Kunert, veröffentlicht im Jahr 2000 ist eine populärwissenschaftliche Sekundärliteratur. Anhand dieses Textes soll die Frage „Die Aufklärung. Abgeschlossene Epoche oder unvollendetes Projekt?“ beantwortet werden.
Der Text stellt die These auf, dass die Aufklärung gescheitert ist. Dieses Scheitern sei ein „um sich greifende Erkenntnis“ (Z. 1), dessen genaue Natur allerdings unbekannt wäre. Kunert ist der Meinung, dessen Ursache ist „[ihr] Erfolg“ (Z. 3).
Es wird angeführt, dass die Aufklärung neben dem Glauben auch „Illusionen, Fantasmen, Aberglauben, Irrtümern und Unvernünften“ zerstörte (Z. 8). Hierdurch entstand ein „Vakuum“ an Selbstverwirklichung, welches vorher durch Fantasien gefüllt wurde.
Die Aufklärung war aber nicht imstande, dieses Verlangen nach Irrationalität zu erfüllen (vgl. Z. 8–11, Z. 15f). Dieses unerfüllbare Verlangen nach Unbekanntem und Unerklärlichem ruft deshalb „innere Trostlosigkeit“ hervor (vgl. Z. 12–14). Aus diesen Gründen ist die Aufklärung auch „diskreditiert“ (Z. 19).
Weiterhin vermutet der Autor, dass „aus den Krämpfen der Sinnlosigkeit und Langeweile“ etwas entstehen würde, das auch „eine ferne zweite Aufklärung […] kaum mehr beseitigen könnte“ (Z. 19). Die Aufklärung wäre außerdem noch schuld an einem „Sinken der Tötungshemmung“ und dem „Schwund der Gewissen“ (Z. 20).
Zusammenfassend charakterisiert Kunert die Aufklärung als negativ, da sie durch eine unmenschliche Rationalität den menschlichen Bedarf an Irrationalität und Unerklärlichkeit nicht stillen könne. Deshalb ist Kunert klar der Meinung, dass die Aufklärung ein unvollendetes Projekt ist, denn ihre negativen Folgen wirken nach ihm bis heute.
Historisch gesehen schuf die Aufklärung revolutionäre Ideen. Aus Ideen der Aufklärer des 18. Jh. entstanden beispielsweise die Ideale der Französische Revolution. Weiterhin verringerte sie die Macht und den Einfluss einer großteils korrupten Kirche und ermöglichte die Entstehung neuer Herrschaftsformen. Mit ihr entstanden die heutigen Wissenschaften, welche durch technischen Fortschritt viele Vorteile für das heutige Leben brachten. Ideen der Aufklärer des 18. Jh. wie Montesquieu waren Vorgänger der Grundsätze heutiger Demokratien.
Weiterhin war der Autor Günter Kunert kein Historiker, sondern wie bereits erwähnt Schriftsteller und Lyriker. Historisch gesehen spricht vieles gegen seine Theorie und seine Intention muss deshalb nicht zwingend sehr wissenschaftlich gewesen sein.
Kunert verwendet im Text stark emotionale Sprache, viele Metaphern und Übertreibungen, er spricht zum Beispiel von einem „Sinken der Tötungshemmung“ (Z. 20). Dies mindert die Sachlichkeit des Textes.
Seine Argumentation ist allerdings schlüssig und wird beispielsweise auch von dem deutschen Philosophen Max Horkheimer, Autor der Essaysammlung und philosophischer Kritik „Dialektik der Aufklärung“ (1944) unterstützt. Dort schreibt Horkheimer: „Seit Beginn der Menschheitsgeschichte und der Selbsterhaltung des Subjekts gegenüber einer bedrohlichen Natur setzte sich eine instrumentelle rationale Vernunft der Aufklärung durch, die einen Selbstzerstörungsprozess in Gang brachte, der Systeme wie den Nationalsozialismus und dessen technisierten Massenmord ermöglichte“.
Allerdings ist hier zu beachten, dass Horkheimer auch kein Historiker war, sondern Philosoph. Aufgrund dessen ist seine Aussage definitiv als weniger wertvoll anzusehen. Weiterhin ist historisch besonders der Nationalsozialismus, dessen Ursache Horkheimer in der Aufklärung sieht, belegbar durch viele Aspekte entstanden. Rationalität gehört aber auf jeden Fall nicht dazu, denn die damals zunehmend extremistische Meinungen wurden stark beeinflusst von dem Scheitern der Weimarer Republik und dem Kriegstrauma bzw. den Folgen des 1. Weltkriegs.
In Bezug auf den historischen Kontext lässt sich argumentieren, dass die Aufklärung eine abgeschlossene Epoche ist. Aufgrund technischen / wissenschaftlichen Fortschrittes, Entstehung neuer Machtsysteme vor allem in Bezug auf Europa und Erschaffung moderner Trennung von Kirche. Demnach wäre die Aufklärung eine Epoche der politisch-technischen Entwicklung, aber trotzdem eine abgeschlossene Epoche.
Im Gegensatz dazu steht, dass die Aufklärung auch eine Zeit gesellschaftlicher Entwicklung war. Beispielsweise Kants Idee, sich „seines eigenen Verstandes zu bedienen“ oder die geteilte Idee, dass die Macht eines Staates von seinen Bürgern ausging, waren revolutionär. Man kann nun argumentieren, dass die politisch-technische Entwicklung der Aufklärung nicht Inhalt sondern Ursache der Aufklärung waren. Demnach lässt sich die Aufklärung als Prozess des Hinterfragens gesellschaftlicher Strukturen und des selbstständigen Denkens darstellen, was klar für eine Aufklärung als unvollendetes Projekt sprechen würde.
Meiner Meinung nach ist deshalb die Aufklärung auch klar ein unvollendetes Projekt. Hier stimme ich dem Autor des Textes auch klar zu, wobei ich in Bezug auf die Auswirkungen der Aufklärung anderer Meinung bin. Auch heutzutage, sowohl innerhalb und außerhalb Europas ist die sichere Meinungsbildung wieder in Gefahr. Durch soziale Medien, Fake News und Echokammern entsteht wieder eine Radikalisierung
— Oskar Manhart